leonardo@humtec.rwth-aachen.de

Sollten Medizinprodukte zentral oder dezentral produziert werden?

kritische Analyse von Rebecca Emmerich

Im Rahmen der Projekt „Leonardo“-Veranstaltungsreihe „Technik und Gesellschaft – Die RWTH und Corona“ präsentierte Prof. Steffen Leonhardt das Projekt „PV1000 – The People‘s Ventilator“. Dabei handelt es sich um die Konzeptionierung, Entwicklung und Implementierung eines Beatmungsgerätes. Beatmungsgeräte wurden im Rahmen der Corona- Pandemie zu entscheidenden Elementen der medizinischen Versorgung von Intensivpatienten mit Lungenerkrankungen, wie COVID-19.

Da sich schon früh ein Mangel solcher Beatmungsgeräte aufgrund des hohen Aufkommens an zu beatmenden Patienten einstellte, entschied sich das Team dazu, ein einfaches und robustes sowie kosteneffizient produzierbares Gerät zu entwickeln. Dabei waren besonders die Entwicklungen in Bergamo (Italien), wo es zu einem Kollaps des Gesundheitssystems kam, ausschlaggebend.

Eine Studie des Instituts für Wirtschaftsforschung zeigt, dass besonders der deutsche Maschinenbau, aber auch die deutsche Wirtschaft im Gesamten, stark von Exporten abhängig ist.[1] Das Gutachten zeigt darüber hinaus, dass eine Abschottung gegenüber jeglichen Exporten aufgrund der aktuellen Export-Import-Vernetzungen zu einer Reduktion der Wohlfahrt um 3,3 – 6,9 %, je nach Ausprägung und Reaktion der Handelspartner, führt. Wird diese zunehmende Abhängigkeit von internationalen Lieferketten auf die Produktion von medizinischen Geräten bezogen, so kommt die Frage auf, ob eine solche Produktion eher zentral oder dezentral organisiert sein sollte, um in Notfallsituationen, wie der derzeitigen Corona-Pandemie, schnell, effizient und ohne Engpässe reagieren zu können.

Bei einer zentralen Produktion werden die Geräte oder Medizinprodukte, im extremen Beispielfall, in einem Land an einem Standort gefertigt und anschließend weltweit verteilt. Die zugehörige Supply Chain ist ebenfalls auf diesen Standort ausgerichtet. Im Gegensatz dazu liegt bei einer dezentralen Organisation der Produktion eine Infrastruktur von weltweit verteilten Produktionsstandorten und der zugehörigen Supply Chain vor.

Ein Argument für eine zentrale Organisation ist, dass Frachtenflüge immer möglich sein werden, sodass produzierte Geräte jederzeit geliefert werden können. Nur durch eine solche zentrale Produktion sei die Versorgung mit qualitativ hochwertigen Rohstoffen und Zulieferteilen gewährleistet. Für eine dezentrale Lösung müssten folglich für jeden Produktionsstandort eigene Lösungen gefunden werden, sofern dieser vom gleichen Hersteller geführt wird.

Hierbei kommt jedoch ein anderer Aspekt zum Tragen, worin sich der dezentrale Ansatz vom zentralen Ansatz unterscheidet. Durch eine dezentrale Lösung würde eine Produktion für kleinere Hersteller attraktiver und es würde zu weniger Monopolstellungen kommen. Durch diese vielen kleineren Produktionsstandorte wäre eine spontane lokale Vergrößerung der Outputmenge an Engpassprodukten einfacher. Dadurch würden zudem lange Transportwege wegfallen. Ein Argument, das gegen diesen Vorteil spricht, ist, dass sofern durch bspw. ein Erdbeben oder eine andere Naturkatastrophe die örtliche Produktion ausfällt, dennoch auf größere Lieferketten zurückgegriffen werden muss. Wird eine solche dezentrale Lösung betrachtet, so müssen auch die Kosten und die Rentabilität der Produktion geprüft werden. Es ist wahrscheinlich, dass eine solche dezentrale Lösung ohne Subventionen möglicherweise weniger oder gar nicht rentabel sein könnte. Ein Grund dafür liegt in der häufig geringen Nachfrage an bspw. Beatmungsgeräten unter Nicht-Pandemiebedingungen. Dann würden diese Produktionsstandorte nur eine geringe Auslastung haben und wären somit nicht rentabel.

Ein weiterer Aspekt, der durch die aktuelle Pandemie zum Vorschein gekommen ist und sich in der Kennzahl der Beatmungsgeräte je 100.000 Einwohner (s.o.) widerspiegelt, ist die weltweite Ungleichheit der medizinischen Versorgung. Ein dezentraler Ansatz hätte eine ausgeglichenere medizinische Versorgung zur Folge. So wäre kein Transport der notwendigen Geräte und Produkte bspw. nach Afrika notwendig, sondern die Länder wären in der Lage ihren eigenen Bedarf zu decken.

Prinzipiell ist eine möglichst flächendeckende Versorgung mit Produktionsstandorten für medizinische Geräte und zugehörige Zulieferteile sinnvoll, was bspw. die Engpässe bei der Versorgung mit Masken zu Beginn der Pandemie gezeigt haben[2]. Dies würde ein schnelles Hochfahren der Produktionskapazitäten im Katastrophenfall ermöglichen. Allerdings ist hier eine möglichst unspezifische Ausrichtung der Produktionsstandorte notwendig, um auf verschiedene Bedarfe reagieren zu können. Eine breite Etablierung solcher Standorte ist natürlich stets mit u.U. hohen Kosten verbunden. Die Folge solcher Notfallkapazitäten könnten leerstehende oder nicht genutzte Produktionsstätten in normalen Zeiten, ohne Katastrophen und Pandemien, sein. Ein Kernelement ist somit eine flexibel veränderbare Produktion, oder auch der Einsatz branchenfremder Elemente. Dieser Ansatz wurde bereits im Projekt PV 1000 umgesetzt. Dennoch bedarf die Umsetzung in Ländern mit einer schwachen Infrastruktur einer genauen Planung. Um diesen Ansatz zu verfolgen, muss daher eine Agilität in der Produktion ermöglicht werden.

An diesem Punkt gilt es abzuwägen, ob eine lokale Etablierung tatsächlich sinnvoll ist. Falls nicht würde dies das Argument unterstützen, zentral zu fertigen und dezentral zu liefern. Dieses Argument wird ebenfalls durch den Bericht des IWF[3] unterstützt. Darin wird gefordert, Handelsbarrieren abzubauen, um so Lieferketten zu beschleunigen. Dies reduziere zudem die Abhängigkeit von einigen wenigen Zulieferländern, wo ggf. gute Handelsabkommen vorliegen.[4] Durch eine Verteilung auf möglichst viele Zulieferländer werden Abhängigkeiten in den Lieferketten reduziert. Ein Beispiel für solche Abhängigkeiten war, wie bereits angesprochen, zu Beginn der Pandemie der Mangel an medizinischen Masken, die fast ausschließlich in China produziert wurden. In der Folge müssen solche Faktoren abgewogen und bewertet werden.

Professor Leonhardt leitet, nach vier Jahren in der Industrie, seit 2003 den Lehrstuhl für medizinische Informationstechnik an der RWTH Aachen. Dort ist er besonders in den Themenfeldern Feedback Control in Medicine, Personal Health Care, Mobile Health , Wearables, Medical Instrumentation und Unobtrusive Sensing tätig. Bereits während seiner Arbeit in der Entwicklungsabteilung der Firma DRÄGER Medical Deutschland GmbH in Lübeck arbeitete er im Bereich Bildgebung von Luft im Körper und von Beatmungsgeräten.

Eine Pandemie im Allgemeinen ist ein so genanntes „Dread Risk“. Dread risks sind Ereignisse, die eine „vergleichsweise geringe Eintrittswahrscheinlichkeit aufweisen, aber innerhalb kurzer Zeit verheerende Auswirkungen für die Menschen haben.“ [5] Um solche Ereignisse erfolgreich zu organisieren sind Risk Manager von zentraler Bedeutung. Diese Aufgabe gewinnt angesichts der aktuellen Pandemie zunehmend an Bedeutung, um die genannten Faktoren zu betrachten, zu bewerten und Handlungsempfehlungen abzuleiten. Wie die vorangegangenen Betrachtungen gezeigt haben, ist ein Mehr an Flexibilität unabdingbar, sofern man auf Dread Risks schnellst- und bestmöglich reagieren möchte. Eine Studie des Instituts für Finanzdienstleistungen Zug der Hochschule Luzern bestärkt diese These dahingehend, dass Risiken neu definiert werden müssen und Planungsannahmen sowohl sehr positive als auch sehr negative Szenarien enthalten müssen. [6] Im Rahmen dieser Untersuchung wird ebenfalls bekräftigt, dass Unternehmen vermehrt ein diversifiziertes Risikomanagement unterstützen sollten. Es stellt sich die Frage, inwiefern ein gelungenes Risikomanagement auf der übergeordneten staatlichen Ebene aussehen muss. Diese Aspekte sind ebenfalls von großer Wichtigkeit bei zukünftigen Standortentscheidungen und Lieferketten für medizinische Produkte und sollten daher Berücksichtigung finden.

Ein weiterer Aspekt, der für das Inverkehrbringen medizinischer Produkte relevant ist, ist deren Zulassung. Wie das Beispiel PV 1000 gezeigt hat, ist eine schnelle Produktentwicklung technisch möglich, problematisch kann hierbei jedoch die Zulassung des Produktes sein. Diese Zulassung ist gewöhnlich ein (zeit-)aufwändiger Prozess, der die Qualität und Sicherheit der Produkte gewährleistet und ist durch die Richtlinie 92/43/EWG[7] und das Gesetz über Medizinprodukte[8] geregelt. Diese ermöglichen grundsätzlich auch eine Sonderzulassung im Bedarfsfall. Diese Zulassungen sind je nach Ort des Inverkehrbringens unterschiedlich, was den (Mehr-)Aufwand einer dezentralen Lösung wiederum erhöhen würde.

Es bleibt damit grundlegend festzuhalten, dass die Etablierung einer breiten Versorgung mit medizinischen Produkten für zukünftige Pandemien und Notfallsituationen notwendig ist. Die Versorgung mit diesen Produkten muss auf die jeweiligen Gegebenheiten spontan und agil reagieren können. Dabei sollte die Koordination der Versorgung von Risk Managern geführt und von Forschenden sowie Leitern der Industrie unterstützt werden. Dabei muss die Qualität und Sicherheit der in Verkehr gebrachten Produkte dennoch gewährleistet werden. Um dieses multikriterielle Problem bestmöglich zu lösen, gilt es im Vorfeld Lösungsmöglichkeiten zu erarbeiten und dabei verschiedene Szenarien zu berücksichtigen. Eine Abwägung zwischen dezentralen und zentralen Lösungen ist notwendig, um eine flächendeckende Versorgung zu ermöglichen, die dennoch rentabel ist.

Fußnoten

[1] Institut für Weltwirtschaft Kiel (2020).
[2] tagesschau (2020).
[3] Institut für Weltwirtschaft Kiel (2020).
[4] Institut für Weltwirtschaft Kiel (2020).
[5] Hunziker et al. (2020).
[6] Hunziker et al. (2020).
[7] Europäisches Parlament und Rat (1993).
[8] Bundesministerium der Justiz und Verbraucherschutz (2020).

Literaturverzeichnis

Bundesministerium der Justiz und Verbraucherschutz: Gesetz über Medizinprodukte: Medizinproduktegesetz – MPG, letzte Fassung vom 19. Juni 2020; Online verfügbar unter:  https://www.gesetze-im-internet.de/mpg/BJNR196300994.html [Zugriff: 16.05.2021]

Duden (2021): Begriff: Atelektase, Online verfügbar unter: https://www.duden.de/rechtschreibung/Atelektase [Zugriff: 16.05.2021]

Europäisches Parlament und Rat: Richtlinie 93/42/EWG: 21.09.2007, 1993, Online verfügbar unter: https://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CONSLEG:1993L0042:20071011:de:PDF [Zugriff: 16.05.2021]

Hoehl, S., Ciesek, S. (2020): Die Virologie von SARS-CoV-2, in: Der Gastroenterologe Zeitschrift fur Gastroenterologie und Hepatologie, 2020, S. 1–4

Hunziker, S., Vanini, U., Durrer, M., Henrizi, Philipp, Unruh, Anjuli (2020): Die Rolle der Risk Manager in der COVID-19 Krise: ERM Report 2020

Institut für Weltwirtschaft Kiel (2020): Lieferketten in der Zeit nach Corona: Kurzgutachten im Auftrag der IMPULS Stiftung, Endgutachten

Mdr.de (2021): Eiserne Lunge & Co: die Geschichte der künstlichen Beatmung, Online verfügbar unter: https://www.mdr.de/zeitreise/eiserne-lunge-beatmungsgeraete-100.html [Zugriff: 16.05.2021]

PV1000 – The People’s Ventilator (2020): Team – PV1000 – The People’s Ventilator, Online verfügbar unter: https://www.pv1000.de/team/ [Zugriff: 16.05.2021]

tagesschau (2020): Debatte um Atemmasken: Streit um Engpässe bei Schutzkleidung, in: tagesschau.de, 04.04.2020, Online verfügbar unter: https://www.tagesschau.de/inland/masken-schutzkleidung-mangel-101.html  [Zugriff: 16.05.2021]

Nach oben scrollen