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Wie kann die dezentrale Produktion von Medizinprodukten in Krisenzeiten gelingen?

kritische Analyse von Laura Göttgens

Im Rahmen der Projekt „Leonardo“-Veranstaltungsreihe „Technik und Gesellschaft – Die RWTH und Corona“ präsentierte Prof. Steffen Leonhardt das Projekt „PV1000 – The People‘s Ventilator“. Dabei handelt es sich um die Konzeptionierung, Entwicklung und Implementierung eines Beatmungsgerätes. Beatmungsgeräte wurden im Rahmen der Corona- Pandemie zu entscheidenden Elementen der medizinischen Versorgung von Intensivpatienten mit Lungenerkrankungen, wie COVID-19.

Da sich schon früh ein Mangel solcher Beatmungsgeräte aufgrund des hohen Aufkommens an zu beatmenden Patienten einstellte, entschied sich das Team dazu, ein einfaches und robustes sowie kosteneffizient produzierbares Gerät zu entwickeln. Dabei waren besonders die Entwicklungen in Bergamo (Italien), wo es zu einem Kollaps des Gesundheitssystems kam, ausschlaggebend.

Covid-19 hat das Jahr 2020 fest im Griff und stellt die ganze Welt vor eine immense Herausforderung. Trotz Schutzmaßnahmen breitet sich das Virus sehr schnell aus – mit fatalen Folgen. Gerade in den Ländern, in denen die medizinische Versorgung noch nicht so weit vorangeschritten ist, wie in vielen Industriestaaten, wird eine ärztliche Versorgung der Bevölkerung immer schwieriger. Viele Menschen erleiden einen schwereren Verlauf der Krankheit und müssen zusätzlich mit Sauerstoff versorgt werden und sind auf ein Beatmungsgerät angewiesen. Doch gerade Beatmungsgeräte sind in vielen Ländern rar. Die Hersteller von Intensiv-Beatmungsgeräten arbeiten unter Hochtouren an der Produktion, doch auch sie stoßen an ihre Grenzen.[1]

Viele Hersteller, so auch das Team des PV1000, arbeiten eng mit Mitarbeitern aus anderen Tätigkeitsbereichen, wie der Elektrotechnik oder dem Maschinenbau, zusammen. Diese Zusammenarbeit ermöglicht es, einen schnelleren Entwicklungs- und Produktionsprozess voranzutreiben. So ist es nicht verwunderlich, dass auch Automobilhersteller in die Produktion von Intensiv-Beatmungsgeräten einsteigen.

Professor Leonhardt leitet, nach vier Jahren in der Industrie, seit 2003 den Lehrstuhl für medizinische Informationstechnik an der RWTH Aachen. Dort ist er besonders in den Themenfeldern Feedback Control in Medicine, Personal Health Care, Mobile Health , Wearables, Medical Instrumentation und Unobtrusive Sensing tätig. Bereits während seiner Arbeit in der Entwicklungsabteilung der Firma DRÄGER Medical Deutschland GmbH in Lübeck arbeitete er im Bereich Bildgebung von Luft im Körper und von Beatmungsgeräten.

Viele Behörden hoffen, dass Konzerne, deren Produktion ohnehin durch die Pandemie sehr stark eingeschränkt ist, ihr Wissen über Design und 3D-Druck weitergeben. Denn dieses Wissen könnte bei der Herstellung komplexer Teile von Nutzen sein. Gleichzeitig müssen die Medizintechniker ihr Wissen über das Design an die Automobilhersteller weitergeben, es entsteht ein Wissensaustausch. Viele Automobilhersteller, darunter Ford und Tesla, waren bereit, Beatmungsgeräte zu produzieren oder mit der Bereitstellung von 3D-Druckern Bauteile herzustellen. Eine Hürde stellt sich der Produktion jedoch. Sie muss unter Bedingungen erfolgen, die für die medizinische Industrie angemessen ist. Auch müssen in der Medizintechnik in Deutschland hohe Standards erfüllt werden. Bei den meisten Materialien handelt es sich um speziell entwickelte Designs und kleine Standardbauteile, was die Produktion zusätzlich erschwert. Ebenfalls unterscheidet sich die Technologie der Beatmungsgeräte, bezogen auf die Software und Elektronik, deutlich von der der Automobilhersteller.[2] Es müssen neue Lieferketten zusammengestellt werden, dann könnten die Mitarbeiter nach einer kurzen Lernphase die Geräte montieren. Ein weiteres Problem, dass eine Produktion von Beatmungsgeräten in Automobilfabriken erschwert, ist die geringe Flexibilität. Autos werden zu möglichst günstigen Preisen verkauft, was eine hohe Automatisierung in der Produktion voraussetzt. Um flexibel produzieren zu können, müsste die Programmierung der gesamten Anlage verändert werden, was einen hohen zeitlichen, aber auch finanziellen, Aufwand erfordert. Doch die technischen Schwierigkeiten sind nicht allein verantwortlich für die schleppende Produktion. Auch Offenheit und Vertrauen spielen dabei eine große Rolle. Die Firma Dräger, als Beispiel, müsste sich keine Sorgen machen, dass ein Automobilhersteller seine Produktion langfristig auf Beatmungsgeräte umstellt. Dennoch würde die kurzfristige Umstellung die Chance eröffnen, flexible Produktionsketten aufzubauen und damit nicht nur für den Moment zu handeln, sondern auch langfristig wesentlich resilienter gegenüber unvorhergesehenen Einflüssen zu werden.[3] Trotzdem sehen viele den Wissensaustauch als schwierig.

Trotz aller Schwierigkeiten hat sich das Unternehmen Ford in Zusammenarbeit mit General Electric (GE) aus Boston zusammengetan, um Beatmungsgeräte zu produzieren. Ford und GE bauen das Beatmungsgerät Model A-E. Eine Besonderheit der Airon-Geräte ist ihr vereinfachtes Design der Energieversorgung, da sie anstelle von Strom mit Luftdruck arbeiten. In den ersten 100 Tagen nach dem Produktionsstart möchte das Unternehmen 50.000 Beatmungsgeräte produzieren, danach ist ein monatlicher Ausstoß  von 30.000 Geräten geplant.[4] Die Abbildung zeigt den Produktionsplan von Ford für die Produktion von Ventilatoren. Gerade in den USA sollen die zusätzlichen Beatmungsgeräte dazu beitragen, dass sich die Situation in den Krankenhäusern entspannt.

Abbildung 1: Ventilator Produktion von Ford (Hebermehl/ Sommer 2020).

Trotz des Engagements der Automobilhersteller erweist sich die Produktion von Beatmungsgeräten für die Intensivmedizin als äußerst schwierig.

Dennoch wollen viele Hersteller im Kampf gegen die Corona-Krise ihren Betrag leisten. Neben Beatmungsgeräten gehören auch Schutzmasken zum wichtigsten Equipment. So haben Jaguar Land Rover mit der Produktion von Gesichtsvisieren im 3D-Druck-Verfahren begonnen.[1] Auch VW beteiligt sich und druckt nun Komponenten für die medizinische Schutzausrüstung. Insgesamt druckt VW in 50 Druckanlagen an unterschiedlichen Standorten Schutzausrüstungen. Diese ist zunächst für den Einsatz in Spanien bestimmt, da die Region besonders stark von der Pandemie betroffen ist. Volkswagen produziert die Rahmenhalterungen für die Gesichtsvisiere, die dann, zusammen mit einer Klarsichtfolie, ein Gesichtsschutzschild ergeben. In der Region Sant‘Agata Bolognese, einer der am schlimmsten vom Coronavirus betroffenen Regionen, steht das Werk des Automobilherstellers Lamborghini. Der Sportwagenhersteller stellte ebenfalls seine Produktion in der Polsterei um und fertigt dort nun chirurgische Masken. So können dort am Tag 1000 Atemmasken für das lokale Krankenhaus gefertigt werden. Lamborghini leistet damit einen enormen Beitrag zur Bekämpfung des Corona-Virus.[2]

Viele Unternehmen sind bereit, in Zeiten der Corona-Pandemie, ihre Produktion auf Schutzausrüstung und medizinische Geräte umzustellen. Doch so einfach, wie es sich anhört, ist dies nicht. Die genannten Faktoren erschweren die Produktion erheblich, denn trotz der Bemühungen vieler Unternehmen bleibt die Umsetzung schwierig. Dennoch zeigt die hohe Nachfrage nach Beatmungsgeräten und Schutzausrüstungen, dass ein flexibleres Handeln in vielen Bereichen der Produktion erforderlich und auch möglich ist. Für die zukünftige Entwicklung, auch in Bezug auf neue Pandemien, ist diese Erkenntnis und die Fähigkeit, schnell auf eine veränderte Situation reagieren zu können, unerlässlich.

Abschließend kann festgehalten werden, dass die Corona-Pandemie deutliche Auswirkungen auf das gesellschaftliche Leben nimmt. Die Medizin steht vor einer besonderen Herausforderung. Nicht nur die hohe Belastung in den Krankenhäusern, sondern auch die, zum Teil fehlenden, Beatmungsgeräte erschweren die Arbeit zunehmend. Neue Projekte, wie der PV1000, versuchen, der Knappheit der Beatmungsgeräte entgegenzuwirken und eine Bereitstellung von Beatmungsgeräten auch in Entwicklungsländern voranzutreiben. Neben der Medizintechnik engagieren sich zunehmend auch Automobilhersteller bei der Produktion von Schutzausrüstung und Beatmungsgeräten, wenn auch nur eingeschränkt. Wie die künftige Entwicklung aussehen wird, ist noch ungewiss. Sicher ist allerdings, dass die Nachfrage nach Ventilatoren hoch ist und die Produktion und Zulassung von neuen Ventilatoren weiter zunehmen muss.

Fußnoten

[1] PV1000: https://www.pv1000.de/beatmungsgeraet/ (abgerufen am 04.05.2021).

[2] HZ (2020): https://www.handelszeitung.ch/news/autobauer-sollen-corona-krise-beatmungsgerate-bauen (abgerufen am 04.05.2021).

[3] Magdans, F. (2020): Gemeinsam Beatmungsgeräte herstellen. Was hindert die Automobilindustrie an einer schnellen Umstellung? https://www.vdi.de/news/detail/was-hindert-die-automobilindustrie-an-einer-schnellen-umstellung (abgerufen am 04.05.2021).

[4] Hebermehl/ Sommer (2020): Beatmungsgeräte der Autoindustrie kaum hilfreich. https://www.auto-motor-und-sport.de/verkehr/autohersteller-atemgeraete-medizinische-schutzausruestung-2020/ (abgerufen am 04.05.2021).

[5] Günnel (2020): Corona-Update: Wie die Autoindustrie die Medizinbranche jetzt unterstützen kann. https://www.automobil-industrie.vogel.de/corona-update-wie-die-autoindustrie-die-medizinbranche-jetzt-unterstuetzen-kann-a-916256/ (abgerufen am 04.05.2021).

[6] Hebermehl/ Sommer (2020): Beatmungsgeräte der Autoindustrie kaum hilfreich. https://www.auto-motor-und-sport.de/verkehr/autohersteller-atemgeraete-medizinische-schutzausruestung-2020/ (abgerufen am 04.05.2021).

Literaturverzeichnis

Bundesministerium der Justiz und Verbraucherschutz: Gesetz über Medizinprodukte: Medizinproduktegesetz – MPG, letzte Fassung vom 19. Juni 2020; Online verfügbar unter:  https://www.gesetze-im-internet.de/mpg/BJNR196300994.html [Zugriff: 16.05.2021]

Duden (2021): Begriff: Atelektase, Online verfügbar unter: https://www.duden.de/rechtschreibung/Atelektase [Zugriff: 16.05.2021]

Europäisches Parlament und Rat: Richtlinie 93/42/EWG: 21.09.2007, 1993, Online verfügbar unter: https://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CONSLEG:1993L0042:20071011:de:PDF [Zugriff: 16.05.2021]

Hoehl, S., Ciesek, S. (2020): Die Virologie von SARS-CoV-2, in: Der Gastroenterologe Zeitschrift fur Gastroenterologie und Hepatologie, 2020, S. 1–4

Hunziker, S., Vanini, U., Durrer, M., Henrizi, Philipp, Unruh, Anjuli (2020): Die Rolle der Risk Manager in der COVID-19 Krise: ERM Report 2020

Institut für Weltwirtschaft Kiel (2020): Lieferketten in der Zeit nach Corona: Kurzgutachten im Auftrag der IMPULS Stiftung, Endgutachten

Mdr.de (2021): Eiserne Lunge & Co: die Geschichte der künstlichen Beatmung, Online verfügbar unter: https://www.mdr.de/zeitreise/eiserne-lunge-beatmungsgeraete-100.html [Zugriff: 16.05.2021]

PV1000 – The People’s Ventilator (2020): Team – PV1000 – The People’s Ventilator, Online verfügbar unter: https://www.pv1000.de/team/ [Zugriff: 16.05.2021]

tagesschau (2020): Debatte um Atemmasken: Streit um Engpässe bei Schutzkleidung, in: tagesschau.de, 04.04.2020, Online verfügbar unter: https://www.tagesschau.de/inland/masken-schutzkleidung-mangel-101.html  [Zugriff: 16.05.2021]

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